Ausgreifende Selbstkörper
Zu den Arbeiten von Carolina Camilla Kreusch Text im Katalog AUTOSOMA
Michael Hübl, 2013
Wenn der Mensch, wie einige Philosophen erörtert haben, ein Mängel-Wesen ist 1, dann hat er sich im Lauf seiner Geschichte zugleich als Überfluss-Schöpfer erwiesen. Denn die Gattung Mensch hat nicht nur einiges unternommen, um ihre Unzulänglichkeiten zu kompensieren: Sie ist zur Produzentin von Erzeugnissen geworden, die über den Ausgleich unmittelbarer Bedürftigkeit hinausreichen. Wo etwa zunächst nur die Notwendigkeit herrschte, sich vor Kälte oder Hitze zu schützen, entstanden über die Zeit hinweg Bekleidungsstücke wie Allonge-Perücke, Smoking oder High Heels. Und wo es unter prähistorischen Lebensbedingungen darum ging, die Ernährung zu sichern, stehen heute Genussmittel wie Gummibärchen, Schokoriegel oder Alkopops zur Verfügung. Dieser von Erfindungsreichtum stimulierte Prozess erschöpfte sich allerdings nicht in Verfeinerungen, in einem immer weiter getriebenen Raffinement ursprünglich primitiver Produkte. Er brachte vielmehr Objekte und Apparate von solcher Komplexität hervor, dass es so aussieht, als seien sie selbst schon eigenständige, zumindest teilautonome Wesen. Tausende von ihnen umkreisen etwa als teils funktionstüchtige, teils mittlerweile inaktive Satelliten die Erde.
Für René Descartes war auch der Mensch ein Apparat 2. Den menschlichen Körper deutete er als ein Gefüge vielfältig ineinander greifender Hebel und Züge, die über Nervenstränge gesteuert werden. Im Zeitalter digitalisierter Hochtechnologie findet diese mechanistische Vorstellung ihre Fortsetzung im Konzept des Cyborg, einer elaborierten Verquickung von technischen und natürlichen Komponenten. Für gewöhnlich ist damit ein Hybrid aus Mensch und Maschine gemeint. Geht man jedoch vom Begriff als solchem und seinen semantischen Komponenten aus, dann wäre bereits ein Lebewesen mit Herzschrittmacher ein Cybernetic Organism 3. Und ist nicht die ganze Erde ein einziger Cyborg, wie ein Kokon von Telekommunikationssignalen umsponnen, die ins All und wieder zurück gesendet werden?
Die Grenzen zwischen Natur und Technik sind durchlässig, die Übergänge fließend geworden. Carolina Camilla Kreusch reflektiert diese Entwicklung von der Warte der Objekte aus. Sie stellt Gegenstände her, die wie Lebewesen wirken: vielfach verschachtelte Kästen, organisch geformte Hohlkörper, die durch Kabel, Drähte, Antennen mit vitalen Nervensystemen verbunden, über Schläuche an metabolische Kreisläufe angeschlossen scheinen. Karton, Klebeband, Holzlatten gehören zu den Grundstoffen, mit denen Kreusch arbeitet. Sie verwendet aber auch fertige Produkte, wie sie überall im Handel zu haben sind, darunter Hocker oder Kommoden, Stühle oder Tische, also Möbel, die noch von einem Handwerker geschreinert sein könnten. Mit gleicher Selbstverständlichkeit greift Kreusch zu Elementen aus industrieller Herstellung, und sei es ein Ofenrohr, ein Elektrokocher oder eine Tiefkühltruhe.
Die Aneignung von Fabrikware durch die Kunst ist gängige Praxis der Moderne und ihrer modifizierten Verlängerungen in die Gegenwart. Isidore Lucien Ducasse alias Conte de Lautréamont hat dieser Praxis im späten 19. Jahrhundert den Weg geebnet, indem er „das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ 4 zum ästhetischen Ereignis erklärte und dessen Schönheit pries. Marcel Duchamp ging kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch einen Schritt weiter. Er montierte das Speichenrad eines Fahrrads samt der dazugehörigen Gabelscheide auf einen weiß lackierten Küchenhocker und begründete mit dieser „Roue de bicyclette“ 5 das Konzept des Readymade.
Ein ambivalentes Verfahren. Denn einerseits steht hier immer noch das Einzelstück, das ‚Werk‘ im Mittelpunkt, auch wenn dieses Objekt aus einer Fabrik stammt, statt von Künstlerhand modelliert worden zu sein. Andererseits ist im Readymade bereits ein Wandel im Umgang mit industriell gefertigter Massenware angelegt, der eklatant am allgemeinen Konsumverhalten sichtbar wird (und dort auf den Zustand des Planeten zurückwirkt), der aber auch die Kunst betrifft. Indem nämlich Gebrauchsgüter in großen Stückzahlen billig auf den Markt kommen, treten sie in jenen „Modus der Verfügbarkeit“ 6 ein, den Aristoteles meinte, wenn er zwischen Werkstück und Werk, Rohstoff und Erzeugnis unterschied und darauf verwies, dass Werkstücke und Rohstoffe zwar ein Potenzial 7 bergen, zu einer spezifischen Sache verarbeitet zu werden, diese Sache aber noch nicht sind: Das Brett kann Bett werden, der Marmorblock Skulptur, aber das Brett ist zunächst nur Brett oder einfach nur Holz, der Block ein Block und nichts weiter als Stein. In der modernen Industriegesellschaft geraten nun die Produkte, die von den Fabrikanlagen nach einer gängigen Metapher ‚ausgespuckt‘ werden, auf eine Stufe mit den Rohstoffen oder Materialien – zumindest in der Kunst, wo sie heute mit der gleichen Selbstverständlicheit als Gestaltungsmittel dienen, mit der ein Bildhauer Gips oder Ton benutzt.
Auf dieser Basis arbeitet Carolina Camilla Kreusch. Die Künstlerin macht keinen Unterschied zwischen Pigment oder Plastikschlauch, Glas oder Gummireifen, Filz oder Föhn. Technische Geräte fungieren ebenso als Bestandteile ihrer Arbeiten wie Silikonmasse und Lackfarbe. Eins geht ins andere über, so dass sich quasi-organische Einheiten ergeben. ‚Quasi-organisch‘ will sagen, dass die Formen, die Kreusch ihren Objekten gibt, an innere Organe wie Herz, Niere, Uterus erinnern. Als quasi-organisch lassen sich aber auch die Übergänge zwischen den oft sehr heterogenen Stücken und Stoffen bezeichnen, weil Kreusch deren Verbindung in einer Weise vornimmt, durch die der Eindruck entsteht, sie seien natürlich gewachsen.
Indem die Künstlerin ihre Arbeiten so anlegt, dass sie Assoziationen an Lebewesen wecken, aktiviert sie gewissermaßen den Humananteil in den Dingen. Der Schemel, den die an alten fachlichen Traditionen geschulte Bildhauerin als Werkstoff nutzt, ist ja nicht einfach nur Holz, der Kochtopf, den sie in eine Installation integriert, nicht einfach nur Stahl, sondern die Gegenstände, die Kreusch als Materialien einsetzt, enthalten neben dem reinen Rohstoff das Ingenium, die Kreativität und die Leistung all der Frauen und Männer, derer es bedurfte, um aus Holz einen Hocker, aus Metall einen Topf zu produzieren. Aus den Dingen spricht der Mensch. Allein von daher passt es, wenn Carolina Camilla Kreusch ihre künstlerischen Erfindungen unter den Oberbegriff „Autosoma“ stellt. Die vordere Hälfte dieses Wort-Zwitters ist durch Bezeichnungen aus dem Bereich der Technik geläufig: Automobil, Automat, Autopilot. Wie das griechische Demonstrativpronomen ‚autos’ anzeigt, geht es dabei um Apparate, die in der Lage sind selbsttätige Aktionen auszuführen – fahren, machen, lenken. Die zweite Hälfte des Kompositums ist im Alltagssprachgebrauch seltener anzutreffen. Am häufigsten tritt sie womöglich in dem einigermaßen verbreiteten Fachterminus ‚Psychosomatik‘ auf. Der nun verweist wieder zurück auf Descartes. Denn Descartes nimmt mit seinem Versuch, das seit der Antike immer wieder diskutierte Leib-Seele-Problem 8 durch strikte Trennung zu lösen, eine radikale Gegenposition zu Theorien ein, die (wie etwa die Psychosomatik) davon ausgehen, dass eine integrale Einheit besteht zwischen dem emotional-sensitiv-sozialen Empfinden (psyche) und dem Körper (soma) eines Menschen.
Semantisch ist das Wort „Autosoma“ ein Verwandter des Cyborg. Es ist ein Hybrid, der im Werk von Carolina Camilla Kreusch materielle und visuelle Bestätigung erfährt. In ihren Objekten und Installationen gehen technische Bauteile und biologisch-organisch anmutende Formen eine innige Verbindung ein; das gleiche gilt für die Zeichnungen. Die Arbeiten geben einen Zusammenhang wieder, reflektieren einen Komplex, in welchem natürlich Gewachsenes und künstlich Geschaffenes gleichwertig ineinandergreifen – als Körper. Dieses Moment des Körperlichen wird noch dadurch hervorgehoben und bekräftigt, dass Kreusch ihre Arbeiten ostentativ mit einer Haut überzieht. Ihre gewölbten, bauchigen, sich ausbuchtenden, manchmal wuchtigen oder scheinbar wuchernden Plastiken werden bedeckt mit einer dicken Lackschicht, deren Farbigkeit als Pop-Variante des altmeisterlichen Inkarnats daherkommt – beispielsweise dann, wenn die Künstlerin Rosa oder Braun, also Farben verwendet, mit denen etwa in Comics oder auf Plakaten gerötete oder pigmentierte, auf jeden Fall aber nackte Haut dargestellt wird. Während in den Malereien des Spätmittelalters und der Renaissance durch mehrere Lagen diaphaner Lasuren suggeriert werden soll, unter der subtil ausgepinselten Oberfläche poche das Blut und pulsiere das Leben, spannt sich bei den Arbeiten Keuschs der Lackanstrich wie eine straffe Epidermis über die Objekte. Der Farbüberzug wird zur robusten Ummantelung, die das Ganze zusammenhält und ihm Halt gibt. Derart fest, dass die Hülle zur Hütte wird und die Haut zum Haus.
Das Bild von den äußeren Zellschichten des menschlichen Körpers als den Wänden eines Gebäudes fußt auf einer langen kulturhistorischen Tradition. Sie reicht zurück bis in die Antike, findet in Platons Theorie vom Leib als dem materiellen (und damit vergänglichen) Wohnort der immateriellen (mithin unsterblichen) Seele prominente Ausprägung, wird im Christentum zu einer nachdrücklichen Glaubenslehre ausgestaltet 9 und wirkt nach bis in die Moderne: „Meine Gefängniszelle – meine Festung“ 10 nannte etwa Franz Kafka 1920 seinen von Lungentuberkulose befallenen Körper, und noch 1985 konstatiert Michel Serres in seiner den fünf Sinnen gewidmeten „Philosophie der Gemenge und Gemische“: „Weich, wie wir sind, bauen wir uns Boxen, die uns härter machen“ 11.
Der Gegensatz von Innenwelt und Außenwelt, der diesen Aussagen implizit zugrunde liegt, ist bei Carolina Camilla Kreusch aufgehoben. Jedenfalls insofern, als ihre organisch geformten oder gezeichneten Objekte Komponenten umfassen, die eigentlich zu Bereichen außerhalb des biologischen Wachstums gehören. Durch die Gleichstellung von Technischem und Organischem besteht bei in diesem Punkt zwischen Innen und Außen keine wirkliche Trennung mehr. Die Erfindungen des Menschen werden gleichsam Organe, das organische Wesen Mensch tritt auf als technoides Gerät: Auf diesen gemeinsamen Nenner lassen sich Kreuschs Plastiken und anderen Arbeiten bringen – vorausgesetzt, man versteht die mal kantigen, mal abgerundeten Gebilde mit ihren Öffnungen und staksigen Beinen als anthropomorphe Körper. Als voluminöse Behältnisse, die zwar nicht mehr wie Menschen aussehen, dafür aber einige jener Errungenschaften ‚inkorporiert‘ haben, die es dem Menschen erlauben, neben der Befriedigung seiner existenziellen Bedürfnisse die ihm eigenen natürlichen Fähigkeiten zu optimieren und seinen Aktionsradius zu erweitern.
Unter dieser Prämisse wird an dem Begriff „Autosoma“ ein zusätzlicher Aspekt sichtbar. In ihm amalgamiert nicht nur der Automat mit dem Leib, sondern „Autosoma“ könnte darüber hinaus eine vollkommen autarke und autonome Einheit meinen: einen „Selbstkörper“. Dem widerspricht allerdings die Disposition der Arbeiten. Die Zeichnungen gleichen verwickelten Netzwerken oder Schaltplänen, die Objekte sind über eine Vielzahl von Anschlüssen mit ihrer Umgebung verknüpft. Schläuche, Schnüre, Kabel oder auch nur – wie in den Zeichnungen – lange, in die Fläche tastende, sich ausdehnende Linien machen deutlich, dass sich die „Selbstkörperlichkeit“ nicht in Isolation erschöpft.
Im Gegenteil: Die Anbindung an das Feld, den Raum, den Kosmos, in dem das jeweilige Haupt- oder Kernelement (als Kiste, Kammer, Kapsel) situiert ist, gehört zu den konstitutiven Merkmalen der Arbeiten von Carolina Camilla Kreusch. Auf einer ihrer Grafiken dockt technisches Gerät an einem genieteten Stahltank an, der mit Lüftungsgittern ausgestattet ist und mit Sensoren ins Universum fühlt; daneben sind Röhren und Rohre auf eine Art UFO ausgerichtet, bei dem ein dicker Teleskop-Arm mit einem hypertrophen Transistorradio fusioniert wurde. Was hier zeichnerisch durchgespielt wird, hat sein Pendant in den plastischen Werken. Auch dort gehen von einem zentralen Hohlkörper nach außen gerichtete Bewegungen aus. Sie können sich in den Schläuchen und anderen Leitungen, aber auch als polypenartige Ausstülpungen oder als lange Stangen manifestieren, die Antennen ähneln. Die Extravertiertheit der Arbeiten wird noch gesteigert durch Löcher und Durchbrüche: Sie unterstreichen, dass Kreusch keine abgeschotteten skulpturalen Autisten, sondern in sich offene Systeme darstellt, Aggregate des Austauschs.
So sind denn ihre Arbeiten weit weniger selbstreferenziell oder selbstgenügsam, als es das Motto „Autosoma“ anfänglich suggeriert. Tatsächlich werden in Kreuschs Werk nicht nur zwischen Natur und Technik, sondern generell die Grenzen aufgehoben – bis hin zur Sprache, mit der die Künstlerin gelegentlich lässig aleatorischen Umgang pflegt. Kunst ist bei Kreusch kein Instrument, um Kategorien aufzustellen, sondern um sie aufzulösen und neu aufzumischen, damit sich zeigt, was sonst hinter den konventionell organisierten Zusammenhängen verborgen bleibt. Kunst ist Welt, sprich: Alles, was der Fall ist, hat in ihr tendenziell seinen Platz. Auch diese Botschaft steckt in „Autosoma“, und sie wird noch befördert, sobald man einen Begriff aus der Genetik berücksichtigt. Autosomen werden dort jene Chromosomen genannt, in denen (mit Ausnahme der Festlegung des Geschlechts) alle für die Ausbildung neuen Lebens nötigen Informationen gespeichert sind. Übertragen auf die Kunst heißt das: Sie enthält sämtliche Möglichkeiten, die Dinge und ihren Sinn zu entfesseln, weniger um sie neu zu definieren als um zu zeigen, dass die Welt zu sperrig, zu widersprüchlich oder zu spröde ist, um sich einfach fassen zu lassen.
Anmerkungen
1 Zur Geschichte der Vorstellung vom Menschen als Mängelwesen, die im 20. Jahrhundert Arnold Gehlen besonders nachdrücklich ausformuliert hat, s. Volker Steenblock: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002, S. 353 ff. ↲
2 s. René Descartes: Meditationes de prima philosophia in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstrantur, zit. nach René Descartes: Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996; dort spricht Descartes etwa vom Körper als machinamentum (S. 150), „einer Art Maschine“ (S. 151) ↲
3 Grundlegende Fragen zu diesem Themenkomplex werden u.a. erörtert in Florian Rötzer (Hg.): Die Zukunft des Körpers, KUNSTFORUM International, Bd. 132 und Bd. 133, Ruppichteroth 1996 ↲
4 Conte de Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror, Reinbek bei Hamburg 2004, S. (=C.d.L.: Les chants de Maldoror, Brüssel 1869) ↲
5 Marcel Duchamp: Roue de bicyclette / Bicycle Wheel, 1913, zerstört, seit 1960 mehrere Repliken ↲
6 Giorgio Agamben: Der Mensch ohne Inhalt. Aus dem Italienischen von Anton Schütz. Berlin 2012, S. 86 (= G.A.: L’uomo senza contenuto, Milano 1970) ↲
7 Agamben verweist auf den Begriff der ‚dynamis’ bei Aristoteles, ebenda ↲
8 s. einführend hierzu etwa Uffe Juul Jensen: Leib/Seele, in Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, Bd. 3, S. 35ff. ↲
9 Eine gründliche und detaillierte Darstellung gibt Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 32ff. ↲
10 Franz Kafka, in Wolf Kittler u.a. (Hg.): Tagebücher. Kritische Ausgabe, Bd. 3, Frankfurt am Main 1990, S. 859 ↲
11 Michel Serres: Die Fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main 21994, S. 194 (= M.S.Le Cinq Sens. Philosophie des corps mêlés, Paris 1985) ↲